Rembrandt, Der lachende Philosoph (Demokrit)
aus einem Kommentar:
... Die
nächstliegende Bemerkung: Das Problem ist, dass die Universitäten zu
Ausbildungsstätten für Berufskarrieren geworden sind. Bologna war ein
Höhe-, aber vermutlich nicht einmal der Schlusspunkt.
Allerdings
waren die Universitäten als Ausbildungsstätten für Berufskarrieren
entstanden. Ärzte, Juristen und Theologen brauchten einen
Univer- sitätsabschluss. In der Neuzeit kamen die leitenden Staatsbeamten
hinzu; wer den Fürsten ihre Reiche verwalten sollte, brauchte eine
umfassende Allgemeinbildung - denn gegen die Juristen und Theologen
würde er bestehen müssen.
Die
besondere Ausprägung der deutschen Universitäten, deren
universalistisches Ideal im 19. Jahrhundert zum Vorbild der westlichen
Welt wurde, verdanken sie dem spezifisch deutschen Bildungs-Begriff. 'Tatsächlich ist die Entgegensetzung von Bildung und dem Lernen
nützlicher Realien für sozialölkonomische Zwecke eine deutsche
Erfindung. Sie wurde zur identitätsstiftenden nationalen Leitidee, denn eine
solche brauchten wir.
Die andern großen Nationen mußten ihre Identität
nicht aus der Reflexion konstruieren, sie konnten sie anschauen: in
einem lebendigen verbind- lichen Menschenbild, in dessen
charakteristischen Zügen die Spuren der gemeinsamen Geschichte lesbar
sind. Der englische gentleman personifi-ziert die historische Vereinigung von Adel und Großbürgertum zur typisch britischen Oligarchie, im französischen citoyen verbinden sich der plebe- jische Stolz des Sansculotten mit römischer Staatsvergötzung, der amerikanische pioneer vereinigt
den beengten Blick auf den nächstliegenden Vor- teil mit einer
kontinentalen Weite des Horizonts. Die tausendfach zersplitterten
Deutschen haben als Nationaltype lediglich den Michel hervorge-bracht, und schämten sich seiner: Er mußte sich erst einmal bilden.'
Die erste Realisierung dieses Ideals wurde die Humboldt'sche
Universität in Berlin, ihr erster gewählter Rektor wurde der
idealistische Philosoph Fichte - der seinerseits das erst hundert Jahre
später in Angriff genommene Programm der Landerziehungsheime entworfen hat. Wandervogel und Deutsche Reformpädagogik wurden zu unmittelbaren Erben der deutschen Bildungsidee.
Das war eine durch und durch bürgerliche Idee. Durch und durch
bürgerlich waren auch die Naturwissenschaften, die man damals so zu
nennen begann, und die universalistische Bildungsidee öffnete ihnen die
Hörsäle der Universitäten. Deutschland war im 19. Jahrhundert Heimstatt der Wissenschaft. Wollte wer 'in der Wissenschaft mitreden', wurde er am besten ein deutscher Professor; aber ein deutscher Doktor war das mindeste; natürlich war die Universität ein Sprungbrett für die Berufslaufbahn.
Auch die Philosophie
kam seit den siebziger Jahren des 19. Jahunderts
wieder zu Ehren, als Sahnehäubchen auf den Realwissenschaften, das
niemand wirklich brauchte, aber über Alles ein weihevolles Licht goss.
Den Naturwisschenschaften zeigte sie sich erkenntlich, indem
sie sich an deren strengen Wissenschaftsbegriff anschmiegte: Seither
ist deutsche Universitätsphilosophie philologisch, pedantisch und für
Außenstehende unverständlich. Und das durfte sie ruhig werden, denn es
entstand eine beispiellose Menge neuer Lehrstühle; und ein Studienrat
an
deutschen Gymnasien war regelmäßig Dr. phil. Ein Studium der Philosophie - gern auch neben einem Brotstudium - diente der Vorbereitung auf einen Erwerbsberuf. Immer weniger der Sache, immer mehr der Form nach.
Das konnte dauerhaft nicht ohne Folgen für das Was der akademischen Philosophie bleiben. Tonnenideologie und Kästchendenken wucherten wie in allen andern Erwerbszweigen, und nach einem Überblick suchten nur dreieinhalb Außenseiter. Das Ergebnis: Ein Denkstil, der wie zu Wolff-Baum- gartens Zeiten sein Genügen in immer neuen, immer spitzfindigeren Definitionen findet,
spielt sich gegen die 'kontinentale', 'historische' und philo- logische
Flohknackerei als denkerischer Stoßtrupp auf und nennt sich wie zum
Hohne auch noch "systematisch".
Ausufernde Form und dünner Inhalt sind nicht an sich das Problem
heutiger philosophischer Dissertationen. Es ist der Gehalt, der nichts
als Wiederkäuen gestattet - und sei es 'ganz von vorne an'. Der Gehalt
einer Philosophie, die sich zu Recht so nennt, bleibt aber immer:
Von der Wirklichkeit weißt du gar nichts, sondern nur von dem, was in deinem Bewusstsein vorkommt, und das sind Vorstellungen. Die mögen ja richtig sein, das wollen wir gerne unterstellen. Aber wie das möglich ist – das
würden wir doch schon herausfinden wollen. Dieses Herausfinden heißt
Philosophieren. Das ist ein eng gefasster Begriff von Philosophie, er
ist rein kritisch;
aber er ist hart und haltbar. Unmittelbar taugt er zu nichts, da haben
die Nörgler Recht. Doch mittelbar taugt er zu allem und ohne ihn taugt
nichts: Er ist der Prüfstein, an dem sich Alles bewähren muss. Aber um das Vorstellen selber geht es. Die brauchbaren Begriffe sind bloß De- rivate, die seien euch geschenkt.
Kritische Philosophie
eignet sich nicht zum Wiederkäuen. Und wer nur einen Titel will, den
wird das Wieder- käuen nicht verdrießen. Philosophie war Jahrhunderte
lang keine Sache der Universität und braucht es auch nicht zu bleiben.
Nachtrag
Der Richtigkeit halber sei aber angefügt, dass Philosophie als
selbständiges wissenschaftliches Fach im heutigen Sinn allerdings an der Universität,
mit der Universität neu-entstanden ist: im hohen Mittelalter, und aus
diesem Grund heißt diese ihre Entwicklungsetappe bis heute Scholastik. Sie war viel weniger steril, als man es redensartlich glauben macht; der Universalienstreit war
ein Wendepunkt der Geistesgeschichte, von einer 'Ersten Aufklärung' ist gar die Rede; und dass er andernorts nicht
stattgefunden hat, merkt man den außereuropäischen Kulturen bis heute
an. Vor allem aber genügte sie sich damals nicht selbst, denn die
Universität war kein Elfenbeinturm: Sie stand in unmittelbarer
Konkurrenz zur Theologie und war beinahe politisch - und in Gestalt
Wilhelm von Ockhams mehr als nur beinahe.
Brechen konnte sie freilich nicht mit dem Dogma. Dazu bedurfte es des Einbruchs der Mathematik in die Philosophie. Galileo
war kein Univer- sitätsgelehrter, Descartes, Spinoza, Newton und Leibniz
ebensowenig. Zur Universitätsangelegenheit wurde sie erst wieder durch Christian Wolff, der die genialen Essays von Leibniz systematisierte und
bis zu Kants Kritiken das darniederliegende deutsche Geistesleben
beherrschte. Nach eige- nem Verständnis Speerspitze der Aufklärung,
erschien sie aber in ihren haarspalterischen Distinktionen und
Definitionen schon der folgenden Generation als eine 'Zweite Scholastik',
und mit der Kritischen Philosophie brach das Denken wieder aus dem universitären Elfenbeinturm aus.
Aber
auch das nur kurz. An kleinlicher Scholastik und zugleich an
systematischem Totalitarismus stellte das Hegel'sche System alles
Vorange- gangene in den Schatten. Als es zusammenbrach, blieb für die
Philosophie nur verbrannte Erde. Allerdings war die Universität unterdessen zu ungeahnten Würden gekommen - siehe oben.
Mit andern Worten, das Verhältnis der Philosophie zur Universität war
immer ein zyklisches, um nicht zu sagen: ein spasmisches.
Universitäts- philosophie ist dem Wesen der Dinge nach schulmäßig - in
Form und Gehalt. Neue Vitalität hat sie stets nur erfahren durch
Abstandnahme vom Hochschulbetrieb und nicht durch den Versuch, ihn
auszubessern.
"Damit sind einige Bedingungen genannt, unter denen der philosophische
Genius in unserer Zeit trotz der schädlichen Gegenwirkungen we- nigstens
entstehen kann: freie Männlichkeit des Charakters, frühzeitige
Menschenkenntnis, keine gelehrte Erziehung, keine patriotische
Ein- klemmung, kein Zwang zum Brot-Erwerben, keine Beziehung zum Staate –
kurz, Freiheit und immer wieder Freiheit: dasselbe wunderbare und
gefährliche Element, in welchem die griechischen Philosophen aufwachsen
durften."
Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen; Kapitel 32/8
26. 10. 2017